Montag, 2. Februar 2009

Restauration des Turiner Grabtuches

Verjüngungskur oder Katastrophe?
Gisela Ermel
Ausschnitt aus "Das Turiner Grabtuch - Das Rätsel des Todes und der Auferstehung von Jesus Christus in neuer Sicht", erscheint 2009 im Verlag der Mediengruppe König, Greiz

Was ist das Turiner Grabtuch? Eine heilige, verehrte Reliquie? Das Werk eines mittelalterlichen Künstlers? Oder gar das Machwerk eines Fälschers? Das echte Grabtuch Christi? Selbst nach mehr als hundert Jahren Forschung durch Historiker, Gerichtsmediziner, Biophysiker, Chemiker, Archäologen, Textilexperten, Atomphysiker, Mikrobotaniker, Kunsthistoriker und zahlreiche weitere Experten verschiedenster Fachrichtungen konnte noch keine endgültige Antwort auf diese Frage gefunden werden.


Das restaurierte Turiner Grabtuch

Jüngst wurde in der Geschichte um das umstrittenste aller Objekte ein neues Kapitel aufgeschlagen. Im Sommer 2002 wurde das Grabtuch "restauriert" und im September des gleichen Jahres dann einer staunenden Schar von Pressevertretern und Grabtuchforschern im neuen "verjüngten" Outfit präsentiert. Schon kurz vor der Pressekonferenz hatten Gerüchte, verbreitet durch eine undichte Stelle der verschworenen Gruppe, die diese Aktion geplant und durchgeführt hatte, zu einem weltweiten Aufschrei unter den Grabtuchforschern geführt.

Die bestmögliche Aufbewahrung des wertvollen Gegenstandes und die daraus resultierende weitere gute Erhaltung von Tuch und Bild waren schon seit langem für die Fachwelt ebenso wichtig wie die wissenschaftliche Erforschung. Wenn auch der Zerfall des Grabtuches vielleicht nicht völlig verhindert werden kann, so bemüht man sich doch seit vielen Jahren intensiv um Methoden, um diesen Zerfall wenigstens zu verlangsamen.

So wurde im Jahr 1992 unter dem damaligen Kardinal von Turin, Saldarini, eine Kommission für die Erhaltung des Turiner Grabtuches gegründet. Im März 2000 fand in der Turiner Villa Gualino eine Konferenz statt, an der nicht nur zahlreiche namhafte Grabtuchforscher teilnahmen, sondern auch Vorschläge eingereicht wurden für die Verlangsamung der Alterung des Tuches und die bestmögliche Lagerung dieses wertvollen Gegenstandes. Dieses Meeting war gekennzeichnet durch den guten Willen zur internationalen Zusammenarbeit, für sorgfältige wissenschaftliche Forschung und durch den Wunsch nach Öffentlichkeit und den Austausch von Ideen. Vorschläge für künftige Forschungen, Messungen, Tests und Lagermethoden wurden eingereicht und vorgestellt.

Versprochen wurde von den Veranstaltern (einberufen worden war die Konferenz von der Erzdiözese von Turin) eine sorgfältige Überprüfung der Vorschläge, Mitglieder der Konservations-Kommission waren anwesend, hörten die Vorträge, nahmen an den Diskussionen teil, versprachen internationale Zusammenarbeit und die Beachtung der Konservierungsempfehlungen. Mit keinem Wort jedoch wurde ein derart radikaler Eingriff erwähnt, wie er ca. zwei Jahre später hinter dem Rücken beinahe der gesamten Grabtuchforscherschar durchgeführt wurde.

Geplant gewesen sein muss das, was später von schockierten Grabtuchforschern als "Radikaloperation" tituliert werden sollte, von langer Hand. Etwa drei Monate nach der Turiner Konferenz hatte Paul Badde, Reporter für Die Welt, Gelegenheit, die Schweizer Textilexpertin Dr. Mechthild Flury-Lemberg (Mitglied der Konservations-Kommission) in Jerusalem zu treffen und zu interviewen. Frau Dr. Flury-Lemberg sagte, dass sie noch im gleichen Jahr den Hollandstoff entfernen werde, um die Rückseite des Grabtuches zu "untersuchen". Der Hollandstoff ist das Gewebe, das zwei Jahre nach dem katastrophalen Brand von 1532 in Frankreich, der das Grabtuch an mehreren Stellen beschädigte, von den Nonnen von Chambéry hinter das wertvolle Tuch genäht wurde zu der Zeit, als sie auch die mehr als 30 Flicken über die Brandlöcher nähten. Paul Badde, der Dr. Flury-Lemberg bereits ein Jahr zuvor in Bern kennengelernt hatte, schrieb:

"Die freundliche Professorin hat das Tuch so oft von nahem gesehen und berührt, wie wohl kein anderer Mensch des 20. Jahrhunderts. Sie kann mit den Händen denken. Als Textilhistorikerin hat sie eine neue Wissenschaft begründet. Bis heute ist sie ohne ihresgleichen in der Fachwelt. Sie hat die berühmten Burgunderteppiche bearbeitet, hat den Artemis-Behang untersucht oder die etruskischen Tücher von Zadar und Zagreb und hat auf der letzten Kutte des Hl Franziskus von Assisi herausgefunden, dass alle 39 Flicken auf diesem Rock aus dem Material der Hl. Clara stammten ... Nun habe ich Frau Dr. Flury-Lemberg in Jerusalem wiedergetroffen. Sie ist hier, um nach antiken Vergleichsstoffen des Turiner Grabtuches zu suchen, das ihr schon so lange keine Ruhe mehr lässt ... Und erst am letzten Wochenende hat sie ein erstes Beispiel des gleichen Webmusters aus dem Gebiet des Roten Meeres aus dem 1. Jahrhundert entdeckt, allerdings aus Wolle."

Sie erzählte dem Reporter, während sie durch Jerusalem schlenderten, dass dies Tuch auf der Rückseite, den Hollandstoff, noch niemand entfernt habe. Bis heute sei das originale Tuch also nur von seiner vorderen Seite her bekannt und die solcherart verhüllte Rückseite überhaupt nicht. "Es klingt unglaublich", so Paul Badde, "der Gral unter allen christlichen Heiligtümern soll bis jetzt nur halb untersucht worden sein? Von den legendären 200.000 Arbeitsstunden, die verschiedene Wissenschaftler mit der Erforschung des Tuches zugebracht haben, soll noch keine einzige auf dessen Rückseite verwandt worden sein? So ist es: Diese Seite der vornehmsten Reliquie der Christenheit ist unbekannter als die Rückseite des Mondes!"

Das ist natürlich nicht ganz richtig. Bei der umfassenden Untersuchung 1978 in Turin durch die Gruppe STURP (Shroud of Turin Research Project) wurde per Fiberglasoptik auch eine Anschauung der Grabtuch-Rückseite durchgeführt und Aufnahmen gemacht. Eine Abtrennung und spätere Wiederanbringung des gesamten Hohllandstoffes wurde damals nicht durchgeführt, da dies ein zu radikaler Eingriff gewesen wäre, wie ja auch sonst gerade die Wissenschaftler von STURP vorbildlich und wissenschaftlich einwandfrei nur mit Methoden arbeiteten, die keinerlei Material an Bild oder Tuch zerstören oder angreifen würden.

Noch im Herbst 2000, so Dr. Flury-Lemberg zu Paul Badde, solle der Hollandstoff entfernt werden, eine Aktion, die ausdrücklich vom Turiner Kardinal der Konservations-Kommission erlaubt werde. Damit werde, so Paul Badde, "Mechthild Flury-Lemberg ... in der Kriminalgeschichte des Turiner Grabtuches wieder ein neues Kapitel" aufschlagen.

Zwei Jahre lang jedoch geschah - nichts! Noch konnten die Grabtuchforscher rund um den Globus ruhig schlafen, hatten sie doch keine Ahnung von dem, was sich im Sommer 2002 in Turin abzuspielen begann.

Die Nacht- und Nebelaktion

Im Juni 2002 versammelte sich die kleine Gruppe von Leuten in der Turiner Kathedrale, Mitglieder der Konservations-Kommission (nur ein paar Auserwählte), darunter Frau Dr. Flury-Lemberg und ihre Assistentin Dr. Irene Tomedi, sowie einige Kirchenauthoritäten. Das Grabtuch wurde nun in eine neue Sakristei gebracht, angrenzend an das linke Querschiff, wo sich der neue Behälter mit der Reliquie befindet. Streng verschlossen und bewacht vor möglichen Neugierigen, wurde nun das Grabtuch aus seinem Behälter herausgeholt und auf einen speziell für diesen Eingriff angefertigten Tisch gelegt. Was nun in den folgenden Wochen geschah, wurde zwar dokumentiert, doch sollte man nur einige kurze Videoszenen der Öffentlichkeit zugänglich machen.

Zuerst wurden sämtliche Flicken von 1534 entfernt sowie der Hollandstoff auf der Rückseite, und innerhalb dieser ersten fünf Tage fand auch eine "Faltenbehandlung" statt.


Restaurationsarbeiten am Turiner Grabtuch

Hierauf führte die Gruppe eine Datenerfassung durch - Scannings von Vorder- und Rückseite, das Scanning-Gerät dabei auf Schienen fahrend in einer Halterung über der langen Tafel. Diese Datenerfassung dauerte bis zum 15. Juli und beinhaltete auch die Anfertigung verschiedener Fotos. Entfernt wurde verbranntes Material, "Staub und Schmutz" (!), die Ränder der nun gesäuberten Brandlöcher grosszügig beschnitten.


Brandspur auf dem Turiner Grabtuch


Brandspuren vor (oben) und nach (unten) der Restauration

Zum Schluss - vom 16. bis zum 23. Juli 2003 - wurde ein neuer Stoff auf die Rückseite des Grabtuches genäht (ein 50 Jahre altes Stück Leinen, viel heller als die bildlosen Zonen des Grabtuches und "etliche Male gewaschen", so Dr. Flury-Lemberg, um eventuelle Kontamination zu vermeiden), und die Ränder der Brandlöcher wurde auf diesem neuen Stoff befestigt. Am 23. Juli dann wurde der kostbare Gegenstand nach einem Gebet in einer feierlichen Prozession, angeführt durch Monsignore Lanzetti (der den in Toronto weilenden Erzbischof vertrat) mit ernsten Gesichtern (auf den Videoaufnahmen ausschauend wie ein Leichenzug, wie einer der Pressevertreter später witzelte) wieder an seinen alten Platz zurückgebracht. Da liegt es nun - in einem Spezialbehälter aus Aluminium (ohne Schweissnähte) in einer Spezialatmosphäre und mit modernster Überwachungs- und Alarmtechnologie behüteter als jeder Schatz.

Und dann platzte im August die Bombe. Irgendeiner der Teilnehmer der streng geheim gehaltenen Aktion muss "gesungen" haben, und der italienische Journalist Orazio Petrosillo muss seine Ohren zur rechten Zeit am rechten Ort gehabt haben. Seine Schlagzeile "Rästel um geheime Veränderung am Tuch - Zerstörung befürchtet" zierte die Titelseite des Il Messagero von Rom am 9. August 2002 und verbreitete sich wie ein Lauffeuer.

"Heilige Reliquie verändert!" hiess es im Blätterwald der Presse. "Das Leichentuch ist nicht mehr das, was es 500 Jahre lang gewesen ist!" oder "Vom historischen Standpunkt aus handelt es sich um eine eindeutige Beschädigung!" usw. Es war die Rede von der "Operation Flicken", von einer "Geheimoperation" und von "Entblössung des Turiner Grabtuches". Doch schon einen Tag später beruhigten Schlagzeilen wie "Heilige Reliquie unverändert" oder "Das Tuch wurde nicht zerstört" die Zeitungsleser verschiedener Länder, und es wurde versichert, der Eingriff sei mit dem Einverständnis des Vatikan und des Heilgien Stuhls durchgeführt worden, und dies streng auf der Basis der Richtlinien, die auf der Konferenz von 2000 in Turin festgelegt worden waren. So das Statement der Kurie in Turin. Mitte September wolle man in einer Pressekonferenz Genaueres mitteilen und neue Fotos vom nun restauriertem Grabtuch präsentieren.

Die Grabtuchforscher waren nicht beruhigt. Ganz und gar nicht. Für sie alle war diese Aktion gänzlich unerwartet und überraschend durchgeführt worden, und keiner der damals an der Konferenz in Turin Anwesenden konnte sich auch nur an eine vage Andeutung erinnern an einen so einschneidenden Eingriff. Ein kollektiver Aufschrei ging durch das Lager der Grabtuchforscher, und man fragte sich, warum ein solcher radikaler Eingriff überhaupt nötig gewesen sein sollte.

Man kann sich vorstellen, mit welcher Spannung diese Leute die Pressekonferenz erwarteten und mit welcher Spannung die nicht Geladenen auf die Berichte der erlesenen Schar der Eingeladenen harrten.

Und dann war es soweit. Am Abend des 20. September 2002 trafen etwa 30 Grabtuchforscher in Turin ein, wo ihnen am Abend ein Bericht präsentiert wurde durch Kardinal Poletto, Monsignore Ghiberti (Generalbevollmächtigter des Turinr Kardinals und Leiter der Konservations-Kommission) und durch Prof. Piero Savarino, den wissenschaftlichen Berater in Sachen Grabtuch. Das Ganze wurde untermalt mit Fotos, Dias und Videoaufnahmen (bei denen manch einem der anwesenden Grabtuchforscher die Haare buchstäblich zu Berge standen bei dem, was man hier zu sehen bekam). Dann hatten die geladenen Gäste zwei Stunden lang Gelegenheit, Fragen zu stellen und zu disputieren, bevor man ihnen das frisch restaurierte Grabtuch zeigte: lang ausgestreckt in einem Metallbehälter und bedeckt mit Schutzglas, das Licht im Raum irgendwie schummrig, so dass man keine genauere Betrachtung anstellen konnte. Zudem war auch noch die Zeit der Besichtigung begrenzt, und man durfte nicht um den Behälter herumgehen.


Hälfte des Turiner Grabtuches mit der Vorderseite des Mannes: unten im restaurierten Zustand

Am nächsten Tag folgte dann die öffentliche Pressekonferenz, nach der es abermals Gelegenheit gab, das Corpus delicti in natura zu bestaunen, und dieses Mal wurde sogar gestattet, um den Behälter herumzugehen. Zum Schluss überreichte man den Anwesenden zwei nette Büchlein, eines mit den Ergebnissen eines Rückseiten-Scanns, den man bereits im Jahr 2000 durchgeführt hatte (mit einer zwischen Grabtuch und Hollandstoff geschobenen Apparatur), und eines, das über die Restauration und ihre Ergebnisse informierte, englisch und italienisch, mit einer Abbildung der Rückseite des Grabtuches in voller Länge. Als Extra-Bonus gab es noch eine CD mit fünf Bildern.

Also alles in bester Ordnung - und alle Aufregung umsonst? Hatte man nun einer gelungenen Schönheitsoperation zu applaudieren? Das Körperbild, so liess man in Turin verlauten, sei nun viel besser zu sehen, während einer der Kirchenleute witzelte, es sei nun "nackt". Das verbrannte Material, von dem sich viel zwischen Hollandstoff und Grabtuch angesammelt hatte, könne nun nicht mehr weiter die Reliquie gefährden und schädigen, so die Erklärung auf der Pressekonferenz über den hauptsächlichen Grund für diesen drastischen Eingriff.

Grabtuchforscher erschüttert und enttäuscht
Die Grabtuchforscher hatten nach dem Anschauen der Videoaufnahmen (die auch ins Internet gestellt wurden und nun jedermann zugänglich waren) mancherlei zu kritisieren.

Der erste Kritikpunkt betraf die Geheimhaltung dieser Aktion. Der Archäologe und langjährige Grabtuchforscher William Meacham beklagte zu Recht, dass man die "Restauration" in aller Stille durchgeführt habe ohne die vorherige Konsultation entsprechender Experten verschiedenster Disziplinen. Nicht einmal die vier führenden Textilexperten unter den Grabtuchforschern, von denen zwei sogar direkt in Turin lebten und arbeiteten, wurden über diese Aktion informiert, geschweige denn zu Rate gezogen. Monsignore Ghiberti begründete die Geheimhaltung damit, dass nur "absolute Verschwiegenheit in dieser Zeit der sicherste Schutz" des Tuches gewesen sei, das wie kaum ein anderes Objekt der Welt ganz oben auf der Liste der durch Terroristen gefährdeten Ziele stehe.

Viele Grabtuchforscher waren der Meinung, die Kommission hätte einen Bericht über den geplanten Eingriff verfassen und veröffentlichen müssen, um anderen Wissenschaftlern zugänglich zu sein. Diese hätten ihre Fachkenntnisse für den geplanten Eingriff beisteuern können. So hätte man unbedingt Experten für Zellulose-Chemie hinzuziehen müssen sowie Fachleute, die ihre Ansicht über die angebliche "Ausbreitung der Brandlöcher" hätten kundgeben können.

Überhaupt herrschte rundum Unverständnis unter den Sindonologen über die Behauptung, der Brand von 1532 schreite noch immer fort - und das nach 470 Jahren! Diese Experten wissen jedoch, dass das Ansammeln der schwarzen Brandteilchen zwischen dem Hollandstoff und dem Grabtuch herührte vom ständigen Rollen und Entrollen und Falten des Grabtuches und durch die mechanischen Manipulationen bei Ausstellungen und Transporten über die langen Jahrhunderte hinweg - und nicht durch einen sich geheimnisvoll immer noch ausweitenden Brand.

Am meisten beklagt wurde von den Grabtuchforschern der Verlust an und die Vermischung von Test- und Untersuchungsmaterial. Wenn auch Piero Savarino, der wissenschaftliche Berater des Turiner Kardinals, versicherte, nichts wäre verloren gegangen oder weggeworfen worden, alles habe man verwahrt, so wissen es doch die Wissenschaftler besser, die die Videoaufnahmen des Events gesehen hatten.

Meacham versuchte Savarino zu erklären, dass es nicht nur wichtig sei, jedes noch so winzigste Partikelchen aufzuheben, sondern ebenso wichtig, dessen genaueste Lage auf dem Grabtuch als auch die Art der Probenentnahme zu dokumentieren. Doch genau dies sei eben nicht geschehen: munter war hier abgesaugt und blauäugig in kleine Döschen verpackt worden, Staub zusammen mit anderen Teilchen, Asche zusammen mit Pollen usw., was den Verlust von Unmengen von Daten bedeute. So sei es völlig nutzlos, so erklärte Meacham, einem Archäologen alle Ausgrabungsfunde aller Schichten einer Ausgrabungsstätte in vier riesigen Säcken zu präsentieren, geordnet lediglich nach Norden, Süden, Osten und Westen der Fundstätte, ohne die dazugehörigen Daten der Lage der Schichten, genauester Lokalisation und der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Fundstücken. Jeder mikroskopisch kleinste Rückstand der Brandlöcher, der hätte identifiziert und entnommen werden können per Mikromanipulator mit genauer Angabe seiner Lokalisation, wurde statt dessen in einen Container gesaugt, gemeinsam mit anderen angeblichen "Schmutzteilchen" derselben Zone.

Am schlimmsten, so Meacham, sei das Absaugen und Pulverisieren der verkohlten Ränder der Brandlöcher - sowohl der 32 Brandlöcher von 1532 als auch der viel älteren regelmässigen sog. "Ordal-Löcher", von denen man bis heute nicht weiss, was sie verursachte. Das Überschneiden von Bild- und / oder Blutspuren mit den verkohlten Rändern ist aus Sicht sehr vieler Wissenschaftler äusserst wichtig für das Studium. Die physikalische und chemische Veränderung, die mögliche Farbpigmente oder andere Substanzen bei der Verkohlung durchgemacht haben, wäre enorm wichtiges Untersuchungsmaterial nicht nur für Chemiker gewesen. Was immer dort vielleicht war, ist nun für immer verloren. Vielleicht werden wir nun nie mehr erfahren, wie die "Ordal-Löcher" entstanden sind. Und überhaupt: jedes Staubkörnchen, Pollenkorn oder Kohlepartikelchen auf dem Grabtuch ist nicht Schmutz, sondern ein Schatz für die Wissenschaft!

Bedauert wurde auch mancherorts die Zerstörung von historischen Daten. Die Restauration von 1534 war ein historisches Zeugnis, das nun für immer zerstört ist. Selbst wenn das Grabtuch nur eine einfache mittelalterliche Reliquie wäre ohne Bild, so hätten doch die Flicken als Teil seiner Geschichte erhalten bleiben müssen.

Was jedoch den Sindonologen wahrlich die Haare zu Berge stehen liess, war der Verzicht der "Restauratoren" auf Handschuhe. Auf dem Video kann man deutlich sehen, dass bei diesem Eingriff keine Handschuhe getragen wurden. Mit blossen Händen wurde hier gearbeitet, und man trug auch keine staubfreie Kleidung - eine Vorstellung, die sich mit "Wissenschaftlichkeit" im Widerspruch befindet. Schon allein wegen der Kontaminationsgefahr für das gesammelte Material hätte man Latex-Handschuhe tragen müssen, so Paul Maloney, Archäologe und Historiker, ganz abgesehen von den Rückständen von Seife, Handcreme und zahlreichen Hautpartikeln, die bei den zahlreichen Handgriffen (trotz vorherigen noch so gründlichen Waschens der Hände) der beiden Textilexpertinnen unweigerlich auf das Tuch geraten sein müssen.

Ebenso haarsträubend empfanden viele Sindonologen das "Ausbügeln der Falten". Dem wertvollen Tuch wurden Bleigewichte angehängt, um es zu dehnen und Faltspuren zu entfernen, und möglicherweise wurde gar ein Ultra-Schall-Verdampfer benutzt zur Unterstützung der Bleigewichte. (Fehlte nur noch, dass man das Grabtuch einer der Kathedralen-Putzfrane unters Dampfbügeleisen gelegt hätte!) Das Ergebnis: eine Seite des Grabtuches ist nun acht Zentimeter, eine andere vier Zentimeter länger! Während historisch relevante Faltspuren wie die, die den Bart überkreuzt, anscheinend noch vorhanden sind, scheinen drei neue Falten, die man 1988 während der Entnahme des Probestückes für den Radiokarbon-Test entdeckte, verschwunden zu sein. Mann muss auch fragen, ob die Faltenbehandlung eventuell Veränderungen an den Blutspuren verursachte.


Grosszügig beschnittene Löcher: oben sieht man noch die Ausbesserungsspuren der Nonnen von Chambéry von 1534

Maloney befürchtet auch negative Folgen für das Grabtuch durch zu viel Licht während der wochenlangen Aktion. Das Video lässt vermuten, dass die ganze Zeit über Licht von oben und von einer näheren Quelle auf das Tuch strahlte. Wurden UV-Filter benutzt, um das Gewebe zu schützen? Unter Konservatoren ist allgemein bekannt, dass UV-Licht auf einem Gewebe auch dann noch weiterwirkt, wenn das Licht längst ausgeschaltet ist. Nun besteht aber der einzige Unterschied zwischen dem Körperbild und dem restlichen Stoff aus dehydrierten und oxidierten Faserspitzen. Mit anderen Worten: die Bildzone ist trockener als der Rest. Licht aber trocknet, "vergilbt" Leinen. Würde dieser natürliche Prozess beschleunigt, so gehen Bildzonen und bildlose Zonen des Grabtuches immer mehr ineinander über und wären nur noch schwer voneinander zu unterscheiden. Im schlimmsten Fall wäre das Bild überhaupt nicht mehr zu sehen. Wissen wir, wie sich eine wochenlange Lichtbestrahlung auf das Grabtuch ausgewirkt hat? Offensichtlich wurde das Tuch auch dann angestrahlt, wenn gerade nicht daran gearbeitet wurde. Einige der Sindonologen, die das Grabtuch vor und nach dem Eingriff original gesehen haben, finden den bildlosen Stoff bereits "dunkler".

Das Fazit der zahlreichen Forscher und Wissenschaftler lautet denn auch so: Ein solch drastischer Eingriff war weder nötig noch dringlich, und es ist zu bedauern, dass man diese einmalige Gelegenheit zu Tests und Messungen am Original und zur - wissenschaftlich einwandfreien - Probenentnahme verpasst hat. William Meacham: "Eine wunderbare Gelegenheit für niveuavolle wissenschaftliche Untersuchungen wurde vertan." Was ebenso verloren ging wie eine Menge Testmaterial ist die Hoffnung auf eine neue interdisziplinäre Ära der Zusammenarbeit in der Grabtuchforschung, die im Geist der Konferenz vom März 2000 in Turin geboren zu sein schien. Nun kann man nur noch hoffen, dass jeder Wissenschaftler die Möglichkeit hat, Zugang zu den Fotos und Scann-Daten zu erhalten, um damit weiterzuarbeiten.

Das Fazit des Archäologen Meacham ist hart. "Eine schreckliche Tragödie ist dem Grabtuch widerfahren, schlimmer als die von 1532!" Das Feuer von 1532 war ein Unglücksfall, und das Grabtuch wurde heldenhaft aus den Flammen gerettet und dann vorsichtig repariert. "Was jedoch im Sommer 2002 dem Grabtuch angetan wurde, war ohne Zweifel in guter Absicht geschehen", wurde jedoch nach Meinung vieler Experten stümperhaft, leichtsinnig und unwissenschaftlich und vor allem ohne vorherige Öffentlichkeit durchgeführt.


Dr. Mechthild Flury-Lemberg

Soll man sich nun über die sog. "Grabtuch-Verjüngung" freuen (freie Sicht auf vorher verborgene Stoffzonen), oder soll man sich ärgern über diesen drastischen Eingriff, von dem wir noch gar nicht wissesn, was für negative Folgen er haben wird? Eines ist klar: mehr als die Kommentare der Experten und ein neues Foto des restaurierten Grabtuches haben wir nicht: die nächste Ausstellung im Jahr 2010 wird spannend werden, denn dann kann man das "restaurierte" Objekt zum ersten Mal wieder öffentlich bestaunen.

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