Freitag, 6. Februar 2009

Acheiropoietos - Nicht von Menschenhand gemacht

Das Palladion von Troja und andere rätselhafte Kultobjekte der Antike

Gisela Ermel



Das bekannteste "nicht von Menschenhand gemachte" Kultobjekt der Antike war zweifellos das Palladion von Troja. Es war eine kleine Statue der Göttin Athene, eine stehende Figur mit einem Speer in der Hand. Dieser "Palladion" genannte Gegenstand galt als unzerstörbar, irgendwie beweglich oder lebendig, mit einer geheimnisvollen Schutzwirkung ausgestattet, aber auch als gefährlich. Über die Herkunft dieses Kultobjektes rankten sich geheimnisvolle Überlieferungen und Informationen.

Die älteste Schrift, die Kunde gab über diesen rätselhaften Gegenstand, ist die Kleine Ilias. Dieses Werk gehört zum sog. Epischen Zyklus, einer Sammlung altgriechischer Ependichtungen, die von der Geschichte des Trojanischen Krieges berichten. Ob auch Homer's Odyssee und Ilias zum Epischen Zyklus zählen, darüber streiten sich die Historiker. Als Verfasser der Kleinen Ilias gilt Lesches von Lesbos, doch auch das ist umstritten. All diese epischen Dichtungen wurden zwischen dem 8. - 6. Jahrhundert v.Chr. verfasst - und somit vier- bis fünfhundert Jahre nach dem Trojanischen Krieg, den man heute anhand der archäologischen Ausgrabungen in die Zeit von ca. 1200 v.Chr. datieren kann. Dass die uralte Stätte Troja zu dieser Zeit einen Krieg verlor, ist nicht mehr länger eine Annahme aufgrund von Überlieferungen, sondern inzwischen das Ergebnis der Ausgrabungen vor Ort, die in den 1990er Jahren begannen und Spuren dieses Krieges zu Tage förderten.

In der Kleinen Ilias, deren Text sich in erster Linie um den Trojanischen Krieg dreht, wird berichtet, wie Helena dem als Kundschafter der Griechen in die Stadt Troja eingedrungenen Odysseus heimlich vom Palladion berichtet. Als Odysseus zusammen mit Diomedes ein zweites Mal vor der Einnahme Trojas in die Stadt eindrang, raubte Diomedes den heiligen Gegenstand. Eine durchaus logische Tat, denn Troja galt so lange als uneinnehmbar und unbesiegbar, wie sich dort das Palladion befand mit seiner mysteriösen Schutzwirkung.

Schon auf dem Rückweg von ihrem kühnen Raubzug stritten sich Odysseus und Diomedes darüber, wer von ihnen beiden das Kultobjekt behalten dürfe.





Odysseus und Diomedes zanken sich um den Besitz des in Troja erbeuteten Palladion (Detail einer griechischen Vasenmalerei)



Nach der Einnahme von Troja und der Teilung der Kriegsbeute verschärfte sich der Streit noch mehr. Aias beanspruchte das Palladion als gewaltigster Teilnehmer des Krieges, und Odysseus als intelligentester. Schliesslich bekam Diomedes den kostbaren Gegenstand, denn man fand Aias mit dem Schwert erschlagen auf. Odysseus flüchtete, des Mordes verdächtigt - der Beginn seiner berühmten Irrfahrten. Soweit die Erzählung der Kleinen Ilias. Über die Herkunft des mysteriösen Gegenstandes erfährt man in dieser Schrift noch nichts, diese Informationen stammen aus späteren Werken.







Diomedes mit dem Palladion (griechische Vasenmalerei)



Über den weiteren Verbleib des Palladion rankten sich unzählige Informationen und Gerüchte. Ungefähr fünfhundert Jahre nach dem Untergang von Troja wurde die Kolonie Neu-Ilion gegründet, eine Siedlung, die sich als die Fortsetzung des alten sagenumwobenen Troja verstand. Äolische Siedler waren in diese seit Hunderten von Jahren unbesiedelt gebliebene Rergion gekommen und hatten ihre neue Stadt Ilion benannt, dem griechischen Namen für Troja. Die Bewohner der bald aufblühenden Stätte behaupteten, das Palladion zu besitzen, leugneten den Raum als solchen und prägten den Gegenstand auf etliche ihrer Münzen.

Dumm nur, dass auch etliche andere Städte behaupteten, das echte Palladion zu besitzen. Diomedes habe es mit nach Argos gebracht, hiess es. Die Athener meinten, es sei dem Diomedes bei der Landung auf attischem Gebiet abgenommen worden und befinde sich nun in ihrer Stadt.





Diomedes und das Palladion



Die Bewohner von Sparta hingegen behaupteten, das Palladion sei aus Argos geraubt und zu ihnen in den Leukippen-Tempel gebracht worden. In Opus erzählte man, das Palladion sei Kassandra nach hier gefolgt.







Kassandra vor dem Palladion, Goldring von ca. 390 v.Chr.



Die Römer wiederum waren davon überzeugt, Aeneas habe das Palladion aus den Flammen des brennenden Troja gerettet und mit nach Rom gebracht.





Aeneas, auf dem Rücken seinen Vater Anchises, in der Hand das Palladion tragend, Münze aus dem Jahr 46 v.Chr.



Gelangte das Palladion nach Rom? Cicero, ein römischer Politiker, Anwalt und Philosph, schrieb im 1. Jh. v.Chr., dass das Palladion gegen Ende des Ersten Punischen Krieges, der zwischen dem Römischen Reich und Karthago ausgefochten und 241 v.Chr. beendet worden war, bei einer Feuersbrunst in Rom durch den Pontifex Maximus L. Metellus aus dem Vestatempel gerettet wurde. Bei diesem Ereignis habe Metellus sein Augenlicht verloren, aber die unerhörte Ehre gewonnen, in den Senat fahren zu dürfen. Das Augenlicht habe er nicht infolge der Feuerflammen veloren, sondern dadurch, dass er dem Palladion zu nahe gekommen war. Zu Ciceros Zeiten soll es noch immer ein Palladion im Vestatempel Roms gegeben haben.





Die Ruinenstätte in Rom mit den Resten des Vestatempels



Der Vestatempel war derjenige der Vesta, Göttin des Feuers und des heimischen Herdes, Schwester des Gottvater Zeus und die römische Version der griechischen Göttin Hestia. Ihr zu Ehren brannte man in ihrem Tempel auf dem Forum Romanum ein ewiges Feuer, das Symbol der Ewigkeit Roms, betreut und bewacht von den Vestalinnen, den einzigen weiblichen Priesterinnen der Stadt. Den Vestatempel umgab stets ein mystisches Dunkel. Man wusste nicht einmal, ob es darin einen Kultgegenstand gebe, oder nicht. Man sprach und wusste wohl über die "sacra pignora" des Tempels, heilige Kultgegenstände, worunter aber ebensogut das Heilige Feuer als auch bestimmte Kultobjekte gemeint sein konnten. Den heiligen Raum des Tempels mit seiner "penus vestae", der Schatzkammer der Vesta, durften nur wenige Personen betreten wie die Priesterinnen und der jeweilige Pontifex Maximus. Was genau sich im Tempel abspielte und was genau sich darin befand, wussten wohl nur sehr wenige Personen. War dort das Palladion, nach fast 1200 Jahren, noch immer existierend?

Varro, ein römischer Polyhistor, der etwa zur gleichen Zeit schrieb wie Cicero, überliefert, das Palladion sei ein Teil der Mitgift gewesen, die die Gemahlin des Zeussohnes Dardanos mit in die Ehe brachte. Diese Frau wiederum war ebenfalls göttlicher Abstammung, denn sie war eine Tochter der Athene. Laut Varro behauptete die römische Familie der Nautii nicht nur, trojanischen Ursprungs zu sein, sondern das Palladion über Lavinium nach Rom mitgebracht zu haben. Ihr Stammvater Natues habe es von Diomedes für den Aeneas in Empfang genommen. Diomedes, der Räuber des Palladion, sei von "göttlichen Mahnungen" genötigt worden, den heiligen Gegenstand Aeneas, dem trojanischen Helden, auszuliefern. Nautes selbst sei in Troja ein Liebling und Priester der Göttin Athene gewesen. Hatten die Nautii das Palladion mit nach Rom gebracht? Oder hatte dies Aeneas getan? Dieser aus Troja stammende Sohn der Göttin Aphrodite galt als Stammvater der Römer. Münzen aus dem 1. Jh. v.Chr. zeigen u.a. Aeneas mit seinem Vater Anchises auf der Flucht aus Troja mit dem Palladion.

Kronon, ein römischer Autor der gleichen Zeit, sprach von mehreren Palladien und meinte, nur eines von ihnen sei echt, eine relativ kleine Statue, die dadurch anzeige, dass in ihr geheimnisvolle göttliche Kräfte vorhanden seien, indem sie sich ab und an von selbst bewege. So ähnlich beschreibt es auch wenig später Vergil, einer der bedeutendsten römischen Dichter gegen Ende des 1. Jh. v.Chr.: Das echte Palladion sei am Funkeln der Augen und dem Schwingen der Lanze zu erkennen. Die Statue, so schrieb er, konnte die Augen von selbst schliessen oder zum Himmel emporheben, und sie konnte sich allgemein von selbst bewegen. Das Palladion, so überliefert es Vergil, habe bereits die Augen Feuer sprühen lassen und die Lanze bewegt, damals, als es nach dem Raub in Troja in das Lager der Griechen gebracht worden sei.

Apollodoros und Ovid, die ebenfalls kurz vor und kurz nach dem Beginn der christlichen Zeitrechnung schrieben, hatten Kunde von einer etwas anderen Version der Herkunft des Palladion. Dieser Gegenstand sei nach einem Gebet des Ilos, einem Nachkomen des Gottes Zeus, an seinen himmlischen Urahnen von diesem vom Himmel auf die Erde herabgeworfen worden. Ilos hatte darum gebeten, ihm ein Zeichen zu geben, ob die Stelle, die zur Gründung der Stadt Troja erwählt worden war, seine Zustimmung finde, da dort ja der Hügel der Göttin Ate sei. Es heisst, das Palladion sei senkrecht in der Erde stecken geblieben und sei hernach als ein vom Himmel stammender Gegenstand verehrt worden. Ilos und sein Urgrossvater Dardanos galten als die legendären ersten Gründer der Stadt Troja.

Gegen Ende des 1.Jh. v.Chr. identifizierte Sextus Propertius die römische Göttin Vesta mit Pallas Athene, also nicht wie allgemein getan, mit der grieschischen Göttin Hestia, und er behauptete, das Feuer im Vestatempel sei das Altarfeuer vor dem dort aufgestellten Palladion. Eine steinerne Inschrift aus etwa der gleichen Zeit aus Privernum, einer römischen Provinzstadt, besagte: "Dieselben Götter, die unten im Vestatempel von Staats wegen ihren Kult haben, verehrt Augustus oben auf dem Palatin in seinem Haus, Vesta und die Penaten samt dem Palladium."

Ganz anders aber äusserte sich Strabon, der bedeutende antike griechische Geschichtsschreiber und Geograph. Er entrüstete sich über die grosse Zahl der angeblichen echten Palladien, die alle aus Troja stammen sollten, aber nur Kopien seien. Doch er glaubte, dass dem echten Palladion geheimnisvolle göttliche Kräfte innewalteten, denn er überlieferte, dass die Statue die Augen von selbst geschlossen habe, als sie von Diomedes geraubt wurde, und sie habe auch die Augen geschlossen oder abgewendet, als man Kassandra beim Angriff auf Troja das Kultobjekt gewaltsam entriss.

Was auch immer man bis zum Beginn des Christentums über das Palladion überlieferte, der glaube an dessen himmlischen Ursprung hatte sich über alle Zeiten und Schicksale hinweg erhalten.


Der Kampf um Troja - Fabel oder Realität?

Die griechische Mythologie nennt Ilos, einen Nachkommen des Gottes Zeus, als den Gründer von Troja, das nach ihm auch Ilios genannt wurde. Schon vor der Gründung von Troja sei ein "vom Himmel stammendes" Bild der Göttin Athene - das Palladion - in den Besitz der Familie gekommen, das dann als wertvollster Besitz dieser Stadt galt, in der man ihm eine Kultstätte errichtete.

Wie schon oben erwähnt, spielte das Palladion eine wichtige Rolle im berühmten Kampf um Troja, denn die Stadt konnte laut Überlieferung erst dann erobert werden, wenn sie nicht mehr durch das Kultbild geschützt war.





Lage der Stadt Troja





Künstlerische Rekonstruktion von Troja



Fand der Trojanische Krieg wirklich statt? Immer wieder wurde und wird diese Frage gestellt. Wurde noch bis in die 1970er Jahre hinein der Kampf um Troja ins Reich der Fabel verwiesen (trotz Schliemann), so sind die heutigen Archäologen anderer Meinung, denn inzwischen passt so vieles der neuen Entdeckungen und Grabungsergebnisse zu den Schilderungen der Antike, dass nun feststeht: es gab zahlreiche Kriege um diese mächtige Stadt, die für die Kontrolle überaus wichtiger Handelswege von zentraler Bedeutung war.

Nicht nur die Beschreibungen der Landschaft, der Bewohner und der Charakteristika diesess Ortes der antiken Schriften wie die Kleine Ilias passen genau in das Bild, das heutige Grabungen zeichnen, auch vieles andere in den Überlieferungen lässt erkennen, dass diese Literatur einen erheblichen historischen Wahrheitsgehalt hat. Die heutigen Archäologen stimmen weitgehend darin überein, dass die von ihnen so bezeichnete Schicht "Troja VIIa" am ehesten zu den geschilderten Ereignissen passt: im 12. Jh.v.Chr. fand hier eine grosse Zerstörung statt, und es konnte ein verheerender Brand nachgewiesen werden (so wie es die Epen schildern, die an die Ilias-Berichte anknüpfen). Das würde auch gut zu den Angaben verschiedener alter griechischer Historiker passen, die den Trojanischen Krieg in diese Zeit verlegen. Auch der ägyptische Priester Manetho schrieb 280 v.Chr. in seiner Geschichte des Pharaonenreiches (eine in vielen Punkten erstaunlich genaue Arbeit), dass der Trojanische Krieg während der Regierungszeit der Pharaonin Tausret (1193-1190 v.Chr. nach unseren heutigen Kenntnissen) stattgefunden habe. Dass Troja gegen 1180 v.Chr. einen Krieg verlor, ist keine Annahme aufgrund von Überlieferungen, sondern das Ergebnis der archäologischen Ausgrabungen.



Das Athene-Heiligtum in Troja

Nach dem Fall von Troja blieb die Stadt mehrere hundert Jahre lang unbesiedelt, bis um 700 v.Chr. äolische Siedler nach dort kamen, die diese Stadt nun Ilion bzw. Neu-Ilion nannten. Die Bewohner Neu-Ilions behaupteten, im Besitz des echten "himmelsentstammten" Athene-Bildes, des Palladions, zu sein - doch dessen rühmten sich auch andere Orte, wie schon erwähnt. Fakt ist jedoch: auch weiterhin spielte in dieser Stadt ein Athene-Heiligtum eine grosse, wenn nicht sogar zentrale Rolle.





Die Ruinenstätte des alten Troja



Als im 5. Jh. v.Chr. der Perserkönig Xerxes die Dardanellen überschritt, um gegen Griechenland zu ziehen, begab er sich zuvor nach Troja / Ilion und opferte im Athene-Tempel dieser Göttin (oder dem Palladion oder einer Nachbildung?) tausend Rinder. Das brachte ihm übrigens wenig Glück, denn kurz danach konnten die Griechen mit der Schlacht von Salamis die Perserkriege endgültig für sich entscheiden.

334 v.Chr. brachte ein weiterer Feldherr am Altar der Athene (bzw. dem Palladion oder einer Nachbildung davon) ein Opfer dar: Alexander der Grosse. Er weihte der Göttin Athene seinen Schild und tauschte ihn gegen einen im Tempel aufbewahrten, den er dann als "Heiligen Schild" der Athene bei seinem erfolgreichen Zug gegen die Perser in den Schlachten vor sich her tragen liess. Alexander d.Gr., der ein grosser Ilias-Verehrer war und Achilleus, einen der Troja-Helden als seinen Ahnherrn betrachtete, verfügte in seinem Testament, dass ein neuer, prächtiger Athene-Tempel erbaut werden sollte.

306 v.Chr. schlossen sich mehrere Städte der Troas zu einem Bund zusammen, in dessen Mittelpunkt der Kult um die Göttin Athene und alljährliche Festspiele standen. Wie in Athen gab es auch in Ilion Grosse und Kleine Panathenäen (= Hauptfest der Stadt Athen zu Ehren Athenes, dessen Höhepunkt nach nächtlicher Vorfeier eine grosse Prozession bildete mit Opferstieren und einem neuen kostbaren Gewand für das dortige Athene-Standbild). In Neu-Ilion dauerte dies Fest gleich zehn Tage und nicht acht wie in Athen. Neben dem Athenefestzug und Opfern für die Göttin gehörten Wagenrennen, Athleten-Wettkämpfe, ein riesiger Jahrmarkt und Rezitationen - zweifellos von homerischen Dichtungen - zum Programm.

305 v.Chr. wurde Lysimachos, ehemals Offizier und Leibwächter des Alexander d.Gr., König von Thrakien. Als nach der Schlacht von Ipsos Ilion zum Reich des Lysimachos zählte, begann dort eine rege Bautätigkeit. Lysimachos liess auf dem höchsten Punkt Trojas einen neuen Athene-Tempel aus Marmor erbauen, sehr wahrscheinlich an der Stelle des alten Athene-Heiligtums, das Alexander d.Gr. und Xerxes aufgesucht hatten. Es soll hier ein "neues Kultbild" aufgestellt worden sein.

Heutige Archäologen fanden übrigens die Überreste eines Brunnens, der genau zwischen dem grossen Altar und der Ostfront des Tempels lag, und der nach dem Neubau durch Lysimachos einen unterirdischen Zugang hatte. So konnte man Wasser schöpfen, ohne dabei in das "Gesichtsfeld" des Kultbildes zu geraten. War dieser unterirdische Weg zum Brunnen Teil eines Kultes, wie heutige Archäologen vermuten? Oder sollte nicht "jedermann" dieses Kultobjekt sehen?

Im Jahr 192 v.Chr. weilte wieder einmal ein prominenter Gast im Athene-Tempel: Antiochus d.Gr. opferte hier der Göttin, bevor er seinen Feldzug gegen die Römer auf dem griechischen Festland begann. Er wurde jedoch bereits zwei Jahre später von den Römern besiegt.

Dieser Krieg leitete für Troja / Ilion eine ganz neue Epoche ein: Im Athene-Tempel opfernde Römer erfuhren von den Ilion-Bewohnern, dass alle Römer durch Aeneas von ihnen abstammten. Die Römer waren begeistert. Dass diese Ilion-Bewohner von den Achäern abstammten und nicht vom Trojaner Aeneas, schien bei dem folgenden rauschenden Verbrüderungsfest niemanden aufzufallen. Ilium, wie es nun von den Römern genannt wurde, wurde im Friedensvertrag von Apameia zur Mutterstadt von Rom erklärt. Das hinderte die Römer jedoch nicht daran, die Stadt im 1. Jh. v.Chr. zu erobern und teilweie zu zerstören.

Bald darauf startete ein umfangreiches Bauprogramm, das auch den Athene-Tempel einschloss. 20 v.Chr. besuchte Augustus die Stadt und gab eine Rundum-Erneuerung des Athene-Tempels in Auftrag. Das Tempelplateau wurde erweitert, und das Heiligtum bekam Säulenhallen.

In den folgenden beiden Jahrhunderten war es praktisch für jeden vornehmen Römer ein Muss, nach Ilium zu reisen, um seiner Mutterstadt die Ehre zu erweisen. Die Ilion-Bewohner wussten diesen Troja-Tourismus geschickt zu ihrem Vorteil zu nutzen. Es wurden massenweise Souvenir-Münzen mit mythologischen Motiven angefertigt, und je mehr Reisende kamen, umso mehr nahmen auch die heroischen Reliquien und Denkmäler zu, und desto bizarrer wurden die Vorzeigeobjekte. Selbst die Tumuli in der Umgebung der Stadt wurden touristengerecht "aufgemotzt" und trojanischen Helden angedichtet, obwohl sie viel jüngeren Ursprungs waren (was sicher nicht erst uneren heutigen Archäologen bekannt war!)

Die Römer flanierten durch zahlreiche Heroengalerien und bestaunten Bildsäulen der trojanischen Helden. Sie setzten sich begeistert auf den Stein, auf dem Papamedes den Achäern das Damespiel beigebracht haben sollte, sie berührten mit Sense-of-wonder-Schauder den Felsen, an den Kassandra gefesselt worden war, und aus dem bei Berührung auf der Vorderseite Milch tröpfelte und an anderen Stellen Blut. Sie bestaunten sogar die Ambosse, die Gott Zeus der widerspenstigen Hera angehängt hatte... Troja / Ilion mutierte zu einer Art Rothenburg ob der Tauber, wenn nicht gar zu einer Art Vorläufer von Disneyland: "Mythenpark Troja" nannte es die Troja-Exepertin Brigit Brandau sehr treffend.

Besonders beliebt war unter den römischen Troja-Touristen, sich von einheimischen Fremdenführern an Schauplätze der Kleinen Ilias führen zu lassen und dort dann die entsprechende Stelle im Epos gewissermassen an Ort und Stelle des Geschehens zu lesen. Mit Sicherheit geschah dies auch an Stellen, an denen man glaubte, dort seien Odysseus und Diomedes in die Stadt eingedrungen, um das Palladion zu rauben. Trojamanie at it's best!

Die letzte Erneuerung des Athene-Tempels, von der wir Kunde haben, wurde unter Marc Aurel im 2. Jh. n.Chr. durchgeführt, in einer Zeit, in der es noch immer glanzvolle Panathenäen-Feste gab zu Ehren der hier verehrten Göttin Athene.

Als sich im Jahr 335 n.Chr. der letzte kaiserliche Besucher, Julius Apostata, durch die Stadt führen liess (sie war inzwischen christlicher Bischofssitz), war der Athene-Tempel geschlossen - wie es sein Vorgänger angeordnet hatte. Es heisst, dass noch immer "alte Kultbiler" dort aufbewahrt wurden.

Etwa 500 n.Chr. erschütterten schwere Erdbeben die Stadt, bei denen die Säulenhallen des Athene-Tempels zusammenfielen. In den folgenden Jahrhunderten war Troja / Ilion nichts weiter als ein winziges Dorf, und nach einem kurzen Aufschwung im 12. / 13. Jh. mit dem Erbau einer christlichen Kirche zerfiel nach und nach diese einst so grossartige Stadt, und es blieb nichts als ein Ruinenfeld.

Heute ist Troja / Ilion ein riesiges archäologisches Ausgrabungsfeld, und jeder Tag kann neue Erkenntnisse und Entdeckungen ans Tageslicht fördern. Doch werden wir jemals wieder eine Spur des Palladions aufnehmen können, oder jemals erfahren, was es wirklich war und wo es wirklich herstammte? In Rom jedenfalls und auch überall sonst haben sich seine Spuren im Laufe der Geschichte verloren.



Römische Kultobjekte

Neben dem Palladion kannte die Antike noch weitere nicht von Menschenhand gemachte oder vom Himmel stammende Kultobjekte. Es gab eine Athenebild in der Cella der Athena Polias auf der Akropolis in Athen. Es war uralt und soll wie das Palladion einst vom Himmel herabgefallen sein, so glaubte man. Es gab ein Athenebild in Thessaloniki in einer alt-attischen Kultstätte und ein Athenebild an der alten Brücke über den Spercheios, das auf den Wolken nach dort gelangt sei. Des weiteren kannte man ein Artemisbild, das an der Küste Attikas verehrt wurde und ebenfalls aus dem Himmel stammen sollte. Cicero kannte neben dem Palladion noch ein Wunderbild der Göttin Ceres, das er als "non humana manu factum sed de caelo" (nicht von menschlicher Hand gemacht, sondern nach allgemeinem Glauben vom Himmel gefallen) beschrieb. Einen "Stein der Grossen Mutter" hatten die Römer nach dem Zweiten Punischen Krieg aus Kleinasien mitgebracht. Er galt als Wunderstein und als vom Himmel herabgefallen.

Die Römer sprachen allgemein von "non hominis manu picta" und "per se facta" - also von Kultobjekten, die nicht von menschlicher Hand angefertigt oder aber irgendwie "von selbst" entstanden seien. Unter all diesen Objekten mag vielleicht der eine oder andere Meteorit gewesen sein, doch waren alle Acheiropoieten nur fehlinterpretierte Objekte, die man mit einer Wunderstory umgab? Wohl kaum.

Eines dieser geheimnisvollen Kultobjekte wird sogar in der Bibel erwähnt. In der Apostelgeschichte wird über ein Bild der Artemis / Diana berichtet: "Ihr Männer von Ephesus, wo ist ein Mann, der nicht weiss, dass die Stadt Ephesus eine Hüterin der grossen Diana ist und ihres Bildes, das vom Himmel gefallen ist?" (Apg. 19, 35). Die frühen Christen hatten jedoch mit Sicherheit Kunde von einer ganzen Reihe solcher Kultobjekte sowohl in Kleinasien als auch in Rom.

Zu diesen Diipiten - vom Himmel gefallenen Kultobjekten - gehörte auch der Schild des Kriegsgottes Mars, der unter Kaiser Numa Pompilius, dem zweiten sagenhaften König Roms nach Romulus, im 6. Jh. v.Chr. vom Himmel herabgefallen oder -geschwebt sei. Er galt als so wertvoll, dass der Kaiser elf genaue Kopien herstellen liess, um Dieben zu erschweren, den echten Gegenstand zu rauben. Diese heiligen Schilde, Ancilia genannt, wurden von den sog. Salischen Priestern immer wieder durch die Strassen Roms getragen, eine showbiz-trächtige Angelegenheit mit Gesang, Tanz und Musik.





Salische Priester tragen Nachbildungen des vom Himmel gefallenen Schildes durch Rom



Warum wurde der echte Gegenstand für einen Schild gehalten? Weil er die Form eines solchen hatte? Unter einem Ancile verstand man damals einen kleinen ovalen Bronzeschild, der auf beiden Seiten eine Einbuchtung und damit in etwa die Form einer Acht hatte. Solche Schilde waren zuvor in der mykenischen Zeit geläufig gewesen und hatten noch bis in die ersten Jahrhunderte des 1. Jahrtausends v.Chr. - also bis in die Zeit des Kaisers Numa Pompilius - zur Bewaffnung italischer Krieger gehört. Ovid beschrieb das Original und seine Kopien auf folgende Weise: "Es war überall umgebogen, klein und rund."

Seit Numa Pompilius nun wurden diese zwölf heiligen Ancilia - das echte Objekt und seine elf Kopien - zusammen mit einer Heiligen Lanze des Gottes Mars in der Regia, der einstigen Residenz des Königs und dem späteren Amtssitz des jeweiligen Pontifex Maximus, aufbewahrt. Jeweils im März und im Oktober wurden sie von den zwölf Saliern, Marspriestern, feierlich hervorgeholt und in einer Prozession durch die Stadt getragen. Dies geschah noch immer in der Zeit des frühen Christentums, wie wir von Plutarch und anderen Autoren wissen. Zu Beginn jedes Festzuges habe sich der jeweilige Feldherr in die Regia begeben, um dort in einem nicht näher bekannten Ritual die Ancilia und die Lanze des Mars zu berühren, dabei die Worte "Mars, sei wachsam!" sagend. Bewegten sich hierbei Schild und Lanze von selbst - oder nicht, so galt dies als Zeichen für Unheil oder Gelingen des Kriegszuges. Die nachfolgenden Zeremonien machten Halt an besonderen Gebäuden, und der ganze Zug dauerte jeweils mehrere Tage. Auch im Fall einer Kriegserklärung wurden die Schilde bewegt. Nicht viel anders taten es später die Christen mit ihren eigenen Acheiropoieten, gleichzeitig die doch so ähnlichen "heidnischen" Kulte ablehnend und verspottend.

Man mag über diese "Wunderbilder" und "aus dem Himmel gefallenen" Kultobjekte denken, was man will. Jede Mythe hat ihren wahren Kern, und spätestens, seit wir wissen, dass das Bild der Jungfrau von Guadalupe und das Schleiertuch von Manoppello wissenschaftlich unerklärlich sind und rätselhafte Merkmale aufweisen, sollten wir Aussagen über die Merkmale und die Herkunft von Kultobjekten wie des Palladions ernst nehmen.

Literatur:

Brandau, Birgit: Troja. Bergisch Gladbach 1997
Breve, H. / Gruben, G.: Griechische Tempel und Heiligtümer. München 1981

Dobschütz, Ernst von: Christusbilder. Leipzig 1899
Heintze, H. von / H. Hager: Athene - Minerva. Ihr Bild im Wandel der Zeit. In: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 1961 o.O.
Heitsch, E.: Die griechischen Dichterfragmente der römischen Kaiserzeit. Göttingen 1961-64
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Irmscher, J.: Das grosse Lexikon der Antike. München 1974
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Nielsson, M.P.: Geschichte der griechischen Religion. München 1955 - 1961

Reitzenstein, R.: Hellenistische Wundererzählungen. Darmstadt 1963
Roscher, H.W.: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Leipzig 1884 - 1937
Schefold, K.: Orient, Hellas und Rom in der archäologischen Forschung seit 1939. Berlin 1949
Trede, Th.: Wunderglaube im Heidentum und in der alten Kirche. Gotha 1901

Valerius Maximux: Sammlung merkwürdiger Reden und Thaten. Übersetzt von D. Friedrich Hoffmann. Stuttgart 1829
Weinreich, O.: Römische Satiren. Zürich 1949
Ziegler, K.: Bibliothek der Alten Welt. Zürich 1954 - 1965



















































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